Gut gewickelt − das Kipferl: Zur Kulturgeschichte eines Frühstücksgebäcks

Irene Krauß, Volkskundlerin, ehem. Leiterin des Museums der Brotkultur, freiberufliche Publizistin und Autorin zahlreicher Werke zur Entstehung und Entwicklung von Backwaren und zur Nahrungsvolkskunde

Das heutige Croissant hat eine lange und spannende Geschichte hinter sich. Die gängige Legende führt den Ursprung auf die Belagerung Wiens durch die Türken und einen erfinderischen Wiener Bäcker zurück. Aber wer weiß schon, dass es bereits vor unserer Zeitrechnung sichelförmige Kultgebäcke gab?

Mal aus Blätterteig hergestellt, mal aus Hefeteig und mal aus ganz normalem Weißbrotteig, so kommt das in Österreich als Kipferl bezeichnete sichel- oder halbmondförmige Gebäck daher. Von der sprachlichen Seite lässt sich dieses Gebäck rasch einteilen: Der Bayer nennt sein Hörnchen Hörndl, der Schwabe und der Franke Hörnle. Dagegen spricht der Schweizer vom Gipfel oder Gipfeli und der Österreicher eben vom Kipfel oder Kipferl, was nicht mit dem Kipf, dem süddeutschen Ausdruck für ein länglich geformtes Brot, zu verwechseln ist. Wer frühmorgens sein Hörnchen verzehrt, denkt im Allgemeinen weder an den Bäcker, der dieses Kleingebäck „gewickelt“ und ofenfrisch gebacken hat, noch daran, dass er mit diesem eine mehrtausendjährige Gebäckform in den Händen hält. Einmal davon abgesehen, dass das Gebäck von den meisten ohnehin pauschal als Croissant bezeichnet wird, obwohl es bei diesen Hörnchen durchaus Unterschiede in Herstellung und Geschmack gibt.

Geschichten und Geschichte

Glaubt man den entsprechenden Legenden, so ist das luftig-blättrige französische Nationalgebäck, das Croissant, keineswegs eine urfranzösische Errungenschaft, sondern − zumindest der Form nach − eine Erfindung der Wiener Bäcker. Nun hat es keinen Sinn, die Lokal­geschichtsschreibung einfach abzutun und lediglich auf historische Nachweise zu setzen. Man muss die entsprechenden Legenden einfach erzählen, weil sie so viele schon gehört haben und darauf bestehen, dass in der Geschichte wohl mehr Wahrheit stecke, als jede Wissenschaft herausbringen kann. Der beliebtesten Legende nach soll das Kipferl nach der Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1683 − übrigens bereits die zweite Blockade durch das Osmanische Reich − erfunden worden sein. Die Türken planten, einen Tunnel unter der Stadtmauer zu graben, um die Stadt im Schlaf zu überrennen. Dies wurde von den Wiener Bäckern, die nachts bei der Arbeit waren, bemerkt und mithilfe des Militärs vereitelt. Genauer gesagt durch ein deutsch-polnisches Entsatzheer unter Führung des polnischen Königs Johann III. Sobieski (1629-1696). Der allgemeine Jubel war groß und die Wiener Bäcker − namentlich ein gewisser Peter Wendler − ließen sich etwas ganz Besonderes einfallen, um ihrer patriotischen Freude Ausdruck zu verleihen. Sie formten ein Gebäck, dessen Form sie an den türkischen Halbmond, an den Belagerungszustand durch die Türken und eben auch an die glorreiche Befreiung erinnerte. Das aus Hefeteig hergestellte Kipferl war geboren.

Durch Marie Antoinette, eine Tochter der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, kam die Halbmondform der Kipferl angeblich im 18. Jahrhundert nach Frankreich. Das Backwerk wurde zunächst aus Hefeteig (Brioche) hergestellt und nach der Sichelform des zunehmenden Mondes als Croissant bezeichnet (= zunehmender Mond oder Halbmond, was sich wiederum vom altfranzösischen croistre und vom lateinischen crescere für wachsen beziehungsweise zunehmen ableitet). Erstmals in einem französischen Nachschlagewerk erwähnt wird das als Croissant bezeichnete Gebäck allerdings erst im Jahr 1853. Wenige Jahre später, 1863, wird in einem anderen Lexikon auch das mond­sichelförmige Aussehen des Backwerks beschrieben.

Das erste Rezept für Croissants aus Plunderteig erschien 1906 in der Nouvelle Encyclopedie culinaire, wie überhaupt die Beliebtheit der Croissants erst seit dem 20. Jahrhundert auszumachen ist. Für die Behauptung, dass die österreichischen Kipferl das Vorbild der Croissants waren, gibt es keine historischen Belege. Dennoch werden süße Backwaren wie die Croissants in Frankreich nach wie vor unter dem Begriff Viennoiseries zusammengefasst, weil man irrtümlich davon ausging, dass dieses Glanzstück der Frühstückskultur aus Wien stamme. Und doch war alles ganz anders …

Sichel- oder halbmondförmige Gebäcke schon seit Jahrhunderten

Denn wer glaubt, in Österreich oder in Frankreich seien die Anfänge der Kipfe(r)lgeschichte beziehungsweise die der namengebenden Form zu finden, der ist eindeutig falsch gewickelt. Das kann schon deswegen nicht stimmen, weil jener Bäckermeister Peter Wendler zwar tatsächlich in Wien gelebt hat – soweit ist die historische Realität also gegeben –, aber bereits vor der Türkenbelagerung gestorben war. Darüber hinaus gab es im Jahre 1670 schon ein kaiserliches Privileg, wonach ein Wiener Bäcker namens Adam Spiegel berechtigt war, sein „khüpfl gebäck“ an drei Stellen der Stadt zu verkaufen. Und weitere 40 Jahre zuvor beweist ein Ausgabenbeleg aus den Akten der Wiener Medizinischen Fakultät, dass sich auch der Dekan den Genuss von „20 Kipfl“ etwas hatte kosten lassen. Hin oder her, eigentlich müsste man aber gar nicht so eifrig nach zufällig auftauchenden Einzelbelegen für das Hörnchen im Österreich des 17. Jahrhunderts Ausschau halten, denn schon vier Jahrhunderte davor hört man in einer Reimchronik von einem entsprechenden Gebäck. Der Chronist Jans Enenkel berichtete im Fürstenbuch von Österreich über Herzog Leopold VI. von Babenberg und dessen Einzug in Wien am Weihnachtstag des Jahres 1227. Die Wiener Bürger müssen dem Herzog einen begeisterten Empfang bereitet haben, bei dem offensichtlich auch die Bäcker der Stadt dem Herzog ihre Geschenke übergaben:

„… dô brâhten im die becken
kipf und wîze flecken …“

Das ist nicht nur die erste urkundliche Erwähnung der Bäcker in Wien, sondern auch eine Aussage über unsere Hörnchen, von denen der Chronist selbst meint, sie seien weißer als Hermelin und Schnee gewesen. Ein ganz besonderes Gebäck also scheint uns, das vermutlich aus feinem Weißbrotteig bereitet wurde.

Auf Spurensuche

Aber das ist nicht alles. Die Ursprünge des Hörnchens beziehungsweise dessen Form liegen sogar noch viel weiter zurück und haben nichts mit Wien zu tun. Im Alten Orient begegnet uns das Hörnchen als rein kultisches Gebildbrot bei den Assyrern, deren Kultmahl aus Hörnchen und Wein bestand. Das lässt sich belegen: Bereits für das 8. Jh. v. Chr. weist der Schweizer Brot- und Gebäckforscher Max Währen auf der Bilddarstellung einer assyrischen kultischen Bankettszene ein mondsichelförmiges Gebäck nach. Zumindest die Form also ist sehr alt. Solche halbrund gebogenen „Hörner“ stellten im damaligen Mondkult ein Sinnbild für den zunehmenden Mond dar, der die Auferstehung nach dem Abklingen des Mondes zur Dunkelheit symbolisierte. Über die Zusammensetzung des entsprechenden Gebäcks ist nichts überliefert; lediglich die Form ist zurückzuverfolgen.
Sehr viel später wurde diese Symbolik als Sinnbild der Auferstehung Christi auf das Frühchristentum übertragen. Zahlreiche bildliche Belege vor allem aus dem 5. und 6. Jahrhundert zeigen uns die Bedeutung des Hörnchens als heiliges Gebäck. So zum Beispiel eine Miniatur mit der Darstellung eines Abendmahls aus dem 6. Jahrhundert. Auf einem Tisch neben der Kelchschale liegt links und rechts je ein Hörnchen mit ausgeprägtem Mittelstück und schön einwärts geschwungenen Enden (Codex Purpureus Rossanensis). Als Heimat dieser Handschrift wird Alexandrien vermutet. Auch auf dem um 1 000 datierten Reliquienschrein des Doms zu Hildesheim lässt sich eine entsprechende Gebäckform nachweisen.

Weitere konkrete Angaben gibt es um das Jahr 1 000 aus der Schweiz: Abt Ekkehard IV. aus St. Gallen/Schweiz zählte in seinem ersten deutschen Gebäckkatalog auch ein halbmondförmiges Gebäck aus feinem Weizenmehl zu den gesegneten Backwerken. Auch die Klosterfrauen von Freckenhorst (heute Nordrhein-Westfalen) erhielten bereits im 11. Jahrhundert in der Fastenzeit „dreimal wöchentlich mondförmige Brote“, die, wurden sie kirchlich gesegnet, natürlich besonders willkommen waren. Ein Jahrhundert später sind als Horn respektive Hörnchen benannte Gebäcke auch bei den Mönchen im französischen Limoges belegt.

Je weiter die Zeit voranschritt, desto mehr etablierte sich das Gebäck im klösterlichen Alltag. In St. Gallen aßen die Mönche bereits im 13. Jahrhundert nachmittags Oblaten und Hörnchen, die aus Linkinwiller stammten (heute Lengwil, Kanton Thurgau). Was uns dabei besonders interessiert ist die Tatsache, dass man das Gebäck sogar von auswärts kommen ließ und demnach eine gewisse Gebäckspezialisierung stattgefunden haben muss. Und noch etwas zeigt dieser Beleg: Hörnchen waren in der Schweiz bereits vor über 700 Jahren ein beliebtes und besonderes Feingebäck. Kein schlechter Rekord, zumal das Gipfeli als Abendmahl- und sonstiges religiöses Gebäck in der Schweiz sogar eine rund 1 000 Jahre alte Vergangenheit hat, wie wir aus den Angaben von St. Gallen wissen.

Diese zeitliche Einordnung dürfte aber auch für das deutsche Gebiet und Frankreich zutreffen, wo die Gebäckform etwa zur gleichen Zeit oder wenig später bekannt war. Und um nochmals auf unseren Ausgangspunkt Wien zurückzukommen: Hier stellten Bäcker die Kipfel bereits im 13. Jahrhundert gewerblich her. Das Backwerk wurde in Wien populär und dürfte regelmäßig gegessen worden sein, denn spätestens im 16. Jahrhundert kannte man dort neben den bereits im 15. Jahrhundert belegten Oblaten-, Krapfen- und Hohlhippenbäckern eigene Kipfelbäcker.

Gewickelt und gefüllt

Aus den oben geschilderten mitteleuropäischen Belegen geht nicht hervor, woraus die Hörnchen in frühen Zeiten bestanden. Da sie aber in Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Österreich eine rasche Verbreitung fanden, dürfte es sich um ein für die damalige Zeit besonderes Feingebäck gehandelt haben.

Beim Stöbern in alten deutschen Kochbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts stößt man selten auf entsprechende Rezepte. Vermutlich war das Hörnchen – und das ist ja bis heute noch so – eben weitgehend ein Bäckergebäck, da seine Herstellung besonderes Know-how erfordert. Im 19. Jahrhundert, genauer gesagt im Jahre 1858, führte Katharina Prato in ihrem Rezeptbuch der süddeutschen und österreichischen Küche aber schon eine Vielzahl von Germ-Kipfel (österr. Germ = Hefe) auf, die mit einer Mohn- oder Nussmasse, mit Mandeln und/oder Rosinen gefüllt sein konnten oder mit Anis und Zucker beziehungsweise mit Vanillezucker bestreut wurden. Das Buch war damals ein Bestseller und erreichte innerhalb von 46 Jahren immerhin eine Rekordauflage von 245 000. Zeitgleich oder einige Jahrzehnte später sind Hefehörnchen mit verschiedenen Füllungen auch in vielen Fachbüchern zu finden; beim herrschaftlichen Berufskoch Rottenhöfer (Füllung aus „Eingesottenem“) ebenso wie bei Carl Krackhart (Füllung mit Himbeermarmelade) oder Carl Gruber (Nuss-, Mohn-, Vanille-, Korinthenfüllung).

Französisches Frühstück mit einem „Croissant au beurre“

Und heute? Das original „Croissant au beurre“ der Franzosen besteht aus einem Hefeteig, dem reichlich Butter beigefügt wird. Für das Touren wird der Teig in üblicher Weise mehrfach ausgerollt und zusammengeschlagen, bis die auf die Teiglagen aufgebrachte Butter völlig eingearbeitet ist. Der Teig wird dann straff gewickelt. Großen Zuwachs hat in den letzten Jahren der Genuss gefüllter warmer Croissants erfahren − von Käse über Schinken bis zu Apfelmus. Für die ebenfalls beliebten „croissants feuilletés au chocolat“ werden bei der Formgebung 10 g schwere Schokoladenriegel in die Teiglinge eingelegt. In einer Zeit, in der Convenience-Produkte in Bäckereien mehr und mehr gefragt sind, kommen Hörnchen, Gipfel oder Kipferl auch als „Croissant-Sandwich“ zu neuen Ehren.

Zusammenfassung

Der Legende nach soll das Hörnchen, das oft mit dem französischen Nationalgebäck, dem Croissant, gleichgesetzt wird, 1683 in Wien entstanden sein. Nachdem die dortigen Bäcker als Frühaufsteher bemerkt hatten, dass die türkischen Belagerer die Stadtmauer untertunneln wollten, schlugen sie Alarm und schufen als Zeichen des Triumphes später den essbaren „Halbmond“ in Hefeteig. Durch die gebürtige Österreicherin Marie Antoinette kam das Backwerk im 18. Jahrhundert angeblich nach Frankreich und wurde dort nach der Sichelform des zunehmenden Mondes als Croissant bezeichnet (= „zunehmender Mond“ oder „Halbmond“).

Tatsächlich ist die gebogene (Gebäck-)Form sehr viel älter und lässt sich auf kultischen Darstellungen der Assyrer bereits im 8. Jh. v. Chr. im nördlichen Mesopotamien nachweisen. Die schriftlichen wie bildlichen Belege reißen in den nachfolgenden Jahrhunderten nicht ab: Mondsichelförmige Gebäcke tauchen seit dem 5. Jahrhundert vor allem als eucharistisches Backwerk auf und seit dem 11. Jahrhundert als Fastengebäck in europäischen Klöstern. Zwei Jahrhunderte später haben sich Kipfe(r)lgebäcke als feines Bäckereiprodukt bereits in Wien etabliert und spätestens seit dem 16. Jahrhundert gibt es dort den eigenständigen Handwerkszweig der Kipfelbäcker. Seit dem 19. Jahrhundert taucht das an sich typische Bäckereiprodukt auch in europäischen Kochbüchern auf. Das Croissant findet man erstmals 1853 in einem französischen Nachschlagewerk beschrieben.

 

Bildnachweis: © Martin Braun KG

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