Dr. Matthias Wiemers, Rechtsanwalt
Eine eher kritische Betrachtung über das Deutsche Lebensmittelbuch ergänzt die Teile I und II unserer Veröffentlichungsreihe zu diesem Thema. Die neu geschaffene Möglichkeit, Leitsätze mit prägendem Charakter zu beschließen, steht dabei im Mittelpunkt.
Die Evaluierung des Deutschen Lebensmittelbuchs führte 2016 zu einer neuen Geschäftsordnung. Erstmals eröffnet diese vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erlassene Neufassung nun ausdrücklich die Möglichkeit, in den Leitsätzen eine bereits bestehende Verkehrsauffassung nicht nur zu beschreiben, sondern eine Verkehrsauffassung durch Leitsätze mit „prägender“ Wirkung neu zu schaffen. Ausdrücklich erwähnt wird die Möglichkeit der Schaffung prägender Leitsätze in der Präambel zur Geschäftsordnung. Danach kann die Lebensmittelbuch-Kommission in besonderen Fällen feststellen, dass sich noch keine allgemein anerkannte Verkehrsauffassung gebildet hat und sodann auch prägend tätig werden. Der damit einhergehende Normierungsanspruch ist aus dem Blickwinkel des Rechtswissenschaftlers nicht unproblematisch.
Herausragend stellt sich zunächst § 3 Abs. 6 dar. Danach kann sich bei allgemeinen, grundsätzlichen oder fachausschussübergreifenden Themen „(…) das Präsidium im Einvernehmen mit dem Bundesministerium zusätzlich zu den in Abs. 1 genannten Fachausschüssen zu einem Fachausschuss für horizontale Angelegenheiten zusammenschließen“. Damit ist nun die Möglichkeit geschaffen, auch „horizontale“ Leitsätze zu beschließen, also solche, die für alle anderen Leitsätze eine bestimmende Wirkung entfalten.
Wenn aber Leitsätze für alle am Markt Beteiligten – und damit auch für die Verbraucherschaft – rechtsverbindlich gemacht werden, nehmen sie letztlich die Funktion von Vorschriften für die Verbraucherinformation ein, weil sich Verbraucher über die Leitsätze über die vorgeschriebene Beschaffenheit von bestimmten Lebensmitteln, die von der prägenden Wirkung der horizontalen Leitsätze erfasst werden, informieren können. Leitsätze dienen dann (auch) der Verbraucherinformation.
Bereits hiermit würde ein regelnder, nicht mehr rein beschreibender, also im rechtstechnischen Sinne ein normierender Anspruch der durch die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission erarbeiteten Leitsätze erhoben. Für ein normierendes Tätigwerden des Gremiums enthält das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) indes keine eindeutige Ermächtigungsgrundlage. Gemäß § 15 Abs. 1 LFGB ist das Deutsche Lebensmittelbuch „eine Sammlung von Leitsätzen, in denen Herstellung, Beschaffenheit oder sonstige Merkmale von Lebensmitteln, die für die Verkehrsfähigkeit von Lebensmitteln von Bedeutung sind, beschrieben werden.“
Es stellt sich von vornherein die Frage, ob allein mit der Neufassung einer Geschäftsordnung, mithin ohne Erlass eines parlamentarischen Gesetzes, das Recht an ein Gremium wie die Lebensmittelbuch-Kommission vermittelt werden kann, verbindliche Leitsätze mit Rechtssatzcharakter festzulegen. Das Herstellen von Lebensmitteln nach eigenen Vorstellungen fällt nämlich grundsätzlich unter das Grundrecht der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) bzw. auch unter die Unternehmerfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG als Teil der Allgemeinen Handlungsfreiheit. Generell erlaubt die bundesdeutsche Rechtsordnung Eingriffe in grundrechtlich geschützte Positionen nur auf der Grundlage formell-materieller Gesetze, also solcher, die ein ordentliches parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren durchlaufen haben. Eine Konkretisierung kann zwar im Wege einer Rechtsverordnung erfolgen, die, anders als das formelle Gesetz, nicht durch das Parlament, sondern durch die Exekutive, also in der Regel durch ein oder mehrere Bundesministerien oder aber eine Landesregierung erlassen werden kann, vgl. Art. 80 Abs. 1 GG. Auch Verordnungen sind Rechtsnormen und können den Rechtsunterworfenen verpflichten; sie gelten deshalb als Gesetze im materiellen Sinn. Für den Erlass von Verordnungen bedarf es aber innerhalb eines formellen, parlamentarischen Gesetzes (vorliegend beispielsweise das LFGB) einer hinreichend konkreten Ermächtigungsgrundlage. Nicht unerwähnt bleiben kann in diesem Zusammenhang, dass jegliche Regelungen, die Grundrechtsrelevanz entfalten, einen legitimen Zweck verfolgen und außerdem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren müssen.
Wie und ob sich Leitsätze mit prägendem Charakter letztlich überhaupt in das durch die Verfassung gesetzte Gefüge der Rechtsquellen einordnen lassen, ist mindestens diskutabel. Nach § 15 Abs. 3 S. 1 LFGB veröffentlicht das BMEL die Leitsätze im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Dem BMEL kommt ausdrücklich ein Prüfungsrecht in rechtlicher und fachlicher Hinsicht zu, einschließlich der Kompetenz, bereits erlassene Leitsätze rückgängig zu machen und neue Entwürfe der Lebensmittelbuch-Kommission von vornherein abzulehnen. Es ist schon äußerst fraglich, ob sich aus diesem Rechtskonstrukt der „Veröffentlichung nach Prüfung“ ein an die Öffentlichkeit gerichteter Rechtsanwendungsbefehl ableiten lässt, der den Leitsätzen den Rechtscharakter einer Rechtsverordnung verleihen würde. Gerade dafür fehlt es vorliegend aber bereits an einer verfassungsgemäßen Ermächtigungsgrundlage. Diese erscheint in keiner Weise entbehrlich, da, wie dargelegt, Produktregelungen in Grundrechte betroffener Lebensmittelunternehmer eingreifen.
Die Vorschläge, den Leitsätzen des Deutschen Lebensmittelbuchs eine unmittelbare Funktion der Verbraucheraufklärung zuzuweisen, können letztlich kaum überzeugen. Ihre Hauptaufgabe besteht nach der Rechtssystematik des LFGB darin, die verkehrsübliche Beschaffenheit von Lebensmitteln zu beschreiben und durch diese Beschreibungen, die aufgrund einer Abstimmung unter Experten erfolgt, unter Umständen den Strafanspruch des Staates aufgrund einer behaupteten Verbrauchertäuschung entfallen zu lassen. Die Entscheidung, ob ein Verhalten aufgrund eines Verstoßes gegen die Beschreibungen in den Leitsätzen ein sanktionswürdiges Verhalten darstellt, trifft aber vorliegend weder der Gesetzgeber noch die Leitsatzkommission: Diese bleibt der freien Würdigung der erkennenden Gerichte der Judikative vorbehalten, die sich anhand der Leitsätze lediglich als Erkenntnisquelle für eine bestehende Verkehrsauffassung bedient. Leitsätze beschreiben Tatsachen und setzen kein Recht. Demgemäß spricht der Jurist im Zusammenhang mit den Leitsätzen auch von einem „vorweggenommenen Sachverständigengutachten“. Die Leitsätze wenden sich schon deshalb auch eher nicht an den Endverbraucher, sondern neben den Gerichten an Experten aus allen Bereichen, die in der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission vertreten sind: Hersteller, Behörden, Wissenschaft und organisierte Verbraucherschaft.
Es gibt eben eine Lücke zwischen dem, was Verbraucher und ihre organisierten Vertreter für wünschenswert halten dürfen, und dem, was der Staat mit den Sanktionen des Strafrechts durchsetzen darf. Der Rechtsstaat will es so.
Zusammenfassung
Es darf angezweifelt werden, ob das von der gegenwärtigen Lebensmittelbuch-Kommission verfolgte Ziel, das bereits in der neuen Geschäftsordnung der Kommission postuliert wird, Leitsätze künftig auch mit prägendem Charakter zu erlassen, einer Prüfung in verfassungsmäßiger Hinsicht standhält. Prägende Leitsätze wären Rechtssetzung, und diese ist dem Gesetzgeber vorbehalten. Art. 15 Abs. 3 LFGB lässt sich nicht dahingehend interpretieren, dass die Leitsätze des Deutschen Lebensmittelbuchs den Rechtscharakter einer Rechtsverordnung haben. Sie sind vielmehr, solange das LFGB nicht geändert wird, als vorweggenommenes Sachverständigengutachten zu werten und damit eine Erkenntnisquelle in tatsächlicher, nicht in rechtlicher Hinsicht, für die Exekutive und die Judikative.