Das Deutsche Lebensmittelbuch – Teil 1

Helmut Martell und Rochus Wallau

Die Arbeit der Deutschen Lebensmittelbuchkommission stand in der Vergangenheit gelegentlich in der Kritik: zu langsam, intransparent und zu wenig verbraucherfreundlich. Dennoch beschreiben die Leitsätze bis heute für viele Lebensmittel die allgemeine Verkehrsauffassung und werden daher als unentbehrlich angesehen. Teil 1 unserer Reihe beschäftigt sich mit den Grundlagen des Deutschen Lebensmittelbuchs.

 

Die Leitsätze des Deutschen Lebensmittelbuchs stellen die allgemeine Verkehrsauffassung zu den wichtigsten Lebensmitteln fest. So der gesetzliche Auftrag. Diese Feststellungen werden von der Deutschen Lebensmittelbuchkommission getroffen – einem 32-köpfigen Gremium, das vom zuständigen Bundesministerium berufen wird und viertelparitätisch aus Vertretern der Verbraucherschaft, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Lebensmittelüberwachung zusammengesetzt ist. Die weiteren Details kann man in der Geschäftsordnung der Lebensmittelbuchkommission nachschlagen.1

 

Die allgemeine Verkehrsauffassung

Die allgemeine Verkehrsauffassung ist nach einer früher von der Rechtsprechung vielfach verwendeten Formel die Übereinstimmung von redlichem Gewerbebrauch und berechtigter Verbrauchererwartung.

Sowohl der Begriff »redlicher Gewerbebrauch« als auch der Begriff »berechtigte Verbrauchererwartung« enthält jeweils ein empirisches (also im Prinzip abzählbares) Element (Gewerbebrauch, Verbrauchererwartung) und ein wertendes (normatives) Element (redlich, berechtigt), sodass auf der Grundlage dieses Modells keine Widersprüche auftreten können. Weicht der tatsächlich festgestellte Gewerbebrauch von der empirisch ermittelten Verbrauchererwartung ab, dann ist – nach diesem Modell – entweder der Gewerbebrauch nicht redlich oder die Verbrauchererwartung nicht berechtigt.

 

Spannungsverhältnis von Konstanz und Anpassung

Doch ganz so einfach liegt die Sache nicht. Denn Verkehrsauffassungen sind dynamisch: Sie wandeln sich im Laufe der Zeit. Leitsätze sind dagegen oft zu statisch – halten also mit den gewandelten Verkehrsauffassungen nicht immer Schritt. Daran entzündete sich in der Vergangenheit mancher Disput, der in Einzelfällen auch dazu geführt hat, dass Gerichte die eine oder andere Feststellung in den Leitsätzen nicht mehr als zutreffenden Ausdruck der aktuellen Verkehrsauffassung bewertet haben.

Andererseits können Leitsätze ihre orientierende Funktion für die Wirtschaftsbeteiligten nur dann erfüllen, wenn man auf ihre Feststellungen in einem planungsrelevanten Zeitraum auch vertrauen kann. Es ist dies das bei allen »Normen« bekannte Spannungsverhältnis von Konstanz und Anpassung. Eine kurzatmige, tagesaktuelle Fortschreibung der Leitsätze ist daher weder wünschenswert noch wegen der geschäftsordnungsmäßigen Vorgaben der Lebensmittelbuchkommission zu befürchten. Denn zwischen einem Änderungsantrag bis zur Veröffentlichung der geänderten Leitsätze im Bundesanzeiger können meist einige Jahre vergehen. Genug Zeit also für alle Beteiligten, sich auf geänderte Feststellungen einzurichten.

 

Intransparenz der Leitsatzerarbeitung?

Vor allem Foodwatch hatte in der Vergangenheit oft die Intransparenz und die »Geheimkabinettsdiplomatie« der Leitsatzerarbeitung beanstandet. Juristisch waren die Vorwürfe, wie letztlich dann sogar das Bundesverwaltungsgericht festgestellt hat, wenig begründet – aber sie trafen einen allgemeinen Argwohn, der auf eine »Delegitimierung bestehender Institutionen« zielt.

Die Kritik galt vor allem der Verpflichtungserklärung der Kommissionsmitglieder, die in vergleichbarer Weise auch für die hinzugezogenen Sachverständigen gilt. Sie lautet: »Ich verpflichte mich zu gewissenhafter und unparteiischer Erfüllung der Aufgaben der Deutschen Lebensmittelbuchkommission sowie zur Verschwiegenheit über die Beratungen der Kommission und ihrer Fachausschüsse und aller sonstiger Tatsachen, die mir aufgrund meiner Mitgliedschaft in der Kommission bekannt werden. Ich bin darüber unterrichtet, dass die Pflicht zur Verschwiegenheit nicht gilt für Tatsachen, die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach einer Geheimhaltung nicht bedürfen.«

Im Übrigen gilt: Die Zusammensetzung und die Aufgaben der DLBK waren und sind gesetzlich geregelt, also öffentlich zugänglich. Das Gleiche gilt für die Geschäftsordnung, die Antragsberechtigung, die Fachausschüsse, die erforderlichen Mehrheiten und alle anderen damit verbundenen Fragen. Aus verständlichen Gründen sieht die Geschäftsordnung allerdings vor, dass die Beratungen innerhalb der Kommission vertraulich sein sollten, um eine freie, auch kontroverse Debatte zu schützen. Aus ähnlichen Gründen sind auch die Kammer- oder Senatsberatungen bei Gerichten vertraulich.

Ansonsten ist durch die viertelparitätische Zusammensetzung der Kommission ein denkbar faires Verfahren gewährleistet. Und die Vorschrift, dass die Kommissionsbeschlüsse grundsätzlich einstimmig erfolgen sollen, stellt sicher, dass keine Seite »untergebuttert« werden kann. (Nur unter besonderen Voraussetzungen reicht eine Dreiviertelmehrheit aus.)

 

Sind Leitsätze noch erforderlich?

»An der Wiege« der Leitsätze und ihrer Vorläufer stand der übereinstimmende Wunsch der damaligen »Nahrungsmittelhersteller« und der Lebensmittelüberwachung, verlässliche Maßstäbe für die Beurteilung von Lebensmitteln zu besitzen. Seit Beginn der gesetzlich geregelten Leitsätze waren die Organisationen der Verbraucherschaft immer mit an Bord, oft hatten sie auch den Kommissionsvorsitz inne (derzeit Frau Dr. Birgit Rehlender von der Stiftung Warentest). Dies zeugt von einem fortbestehenden und – vor allem – einem übereinstimmenden Interesse an der Existenz solcher Leitsätze.

Die gelegentlich geäußerten Überlegungen, ob Leitsätze wegen der heute vorgeschriebenen Volldeklaration von Lebensmitteln bis hin zur Nährwertkennzeichnung überhaupt noch erforderlich seien, haben sich nicht durchsetzen können. Nicht zuletzt auch deshalb, weil nicht vorverpackte Lebensmittel weitgehend von der Kennzeichnungsverpflichtung ausgenommen sind.

Und früher einmal europarechtlich begründete Zweifel am Sinn von unterschiedlichen nationalen Leitsätzen haben sich wegen des Prinzips der wechselseitigen Anerkennung abweichender Verkehrsauffassungen ebenfalls in Luft aufgelöst: Nach dem gesetzlich verankerten »Cassis-Prinzip« sind alle Lebensmittel, die in einem Mitgliedsstaat der EU rechtmäßig hergestellt und vermarktet werden, grundsätzlich auch in jedem anderen Mitgliedsstaat verkehrsfähig.

Schließlich ist daran zu erinnern, dass Leitsätze keine Rechtsnormen darstellen. Von ihren Feststellungen kann jederzeit abgewichen werden, sofern die Abweichung von der leitsatzmäßig festgestellten Verkehrsauffassung gemäß den Vorschriften der LMIV ausreichend gekennzeichnet wird. Auch dies lässt Freiheit für Produktentwicklungen und für rasche Antworten auf sich wandelnde Verbraucherwünsche.

All das entbindet die Kommission aber keineswegs, jeden Leitsatz regelmäßig darauf zu prüfen, ob er noch der aktuellen Verkehrsauffassung entspricht.

 

Quellenangaben

1.    http://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Lebensmittelbuch/DLMBK-GO-160620.pdf;jsessionid=88F0387309221924732F7AC218991267.2_cid376?__blob=publicationFile
2.    Vgl. § 13 und 14 der Geschäftsordnung.

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