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Markus Hombach, Leidenschaftlicher Bäckermeister und Bäckereitechniker, Prokurist und Leiter der IREKS Backakademie, Kulmbach
In den vergangenen 20 Jahren hat das Interesse am Backen stark zugenommen – auch unter Konsumenten. Es ist ein reger Austausch zu Rohstoffen, Verfahren und Gebäckqualitäten entstanden. Der Wunsch nach Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und die Suche nach dem perfekten Ergebnis führen dazu, dass Vorteigen und Sauerteigen immer mehr Beachtung geschenkt wird. In verschiedenen Magazinen und Foren hat sich der Lievito Madre beziehungsweise der Lievito Naturale als besonderer Sauerteig mittlerweile etabliert, nun ist er bereit für die große Bühne.
Insbesondere in Italien, aber auch in Griechenland, hat man die Herstellung von Lievito Madre immer gepflegt und für Panettone und die weiteren Grandi Lievitati angewendet.
Lievitisti
Lievitisti sind im Produktionsbetrieb ausgebildete Spezialisten, die die Produktion des Lievito Madre steuern und überwachen. Sie benötigen viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl sowie die Unterstützung durch Messung der analytischen und mikrobiologischen Eigenschaften.
Grandi Lievitati
Als „Grandi Lievitati“ bezeichnet man die sehr geschätzten, hochwertigen Festtagskuchen aus schwerem Hefefeinteig. Neben dem klassischen Panettone zu Weihnachten, der Colomba Pasquale zu Ostern und dem Pandoro aus dem Raum Verona werden heute viele weitere Varianten mit Schokolade, Nüssen oder Karamell angeboten. Bei diesen Gebäcken sind die Anteile an Zucker und Butter bezogen auf die Mehlmenge zum Teil höher als bei Christstollen. Dennoch sind die Gebäcke viel lockerer. Dies wird ermöglicht durch die Verwendung von eiweißreichen Weizenmehlen und die mehrstufige Herstellung mithilfe von Lievito Madre. Siehe auch backwaren aktuell, Ausgabe 01/2019 „Italienische Festtagsgebäcke“ von Dr. Kunz.
Aber was ist Lievito Madre eigentlich und warum schwören viele auf die Verwendung dieser Sauerteige?
Der Lievito Madre ist ein milder Weizensauerteig, der sich vielfältig zur Lockerung und Geschmacksverbesserung einsetzen lässt. Der Ursprung geht auf die Anfänge der Brotherstellung vor über 5.000 Jahren zurück, als der Mensch lernte, dass der gegärte, blasige und vielleicht ungewöhnlich wirkende Getreidebrei nach dem Backen ein lockereres, wohlschmeckendes und bekömmlicheres Gebäck ergab. Die Heranführung von Sauerteigen auf Basis von Mehl und Wasser wurde daraus empirisch weiterentwickelt und bis zur Einführung der industriellen Backhefe im 19. Jahrhundert zur Brot- und Feingebäck-Herstellung genutzt. Mit Backhefe, die abgeleitet von der Bierhefe auf dem „fremden“ Medium Zuckerrübenmelasse gezüchtet wird, konnte wirtschaftlicher und sicherer gearbeitet werden. Dabei wurde fast vergessen, dass die aufwendigere, stufenweise Gebäckherstellung mit „Mutterhefe“ beziehungsweise „Naturhefe“, die sich auf dem verwendeten Mehl ganz natürlich vermehrt und gärt, wesentlich zur Gebäckqualität beiträgt. Inzwischen ist das Bewusstsein um die Bedeutung von langen Teigführungen mit Lievito Madre gestiegen und hat dazu geführt, dass sich der Einsatzbereich auch auf Brot, Kleingebäck und Pizza erstreckt. Neben Großbackbetrieben nutzen heute auch handwerkliche Bäckereien die positiven Effekte von Lievito Madre und kommunizieren dies offensiv an ihre Kunden. Effekte von Lievito Madre für Hefefeingebäcke, Brot, Kleingebäck und Pizza:
- offene Porung/lockere Krume
- kurzer Biss und zarter Schmelz
- einzigartig in Aroma und Geschmack
Unterschiede zu anderen Sauerteigen
Der Lievito Madre wird aufgrund der enthaltenen Milchsäurebakterien und Milchsäure meist den Sauerteigen zugerechnet. Dennoch unterscheidet er sich deutlich von den klassischen Sauerteigen auf Basis von Weizen, Roggen oder Dinkel, die in der ganzen Welt verwendet werden. Beim Lievito Madre steht nicht die gebildete Säure, welche beispielsweise für die optimale Backfähigkeit von Roggenmehl benötigt wird, im Vordergrund. Wichtig sind die gleichmäßige Triebkraft und der Einfluss auf die Struktur und Textur von Hefegebäcken. Roggensauerteige, wie sie in Nord-, Mittel- und Osteuropa verwendet werden, bilden deutlich mehr und geschmacklich intensivere Säure. Auch die in Frankreich und Nordamerika verwendeten Weizensauerteige (Levain) unterstützen die Teiglockerung, ergeben im Vergleich zu Lievito Madre jedoch einen viel säurebetonteren Geruch und Geschmack.
In reifem Lievito Madre finden sich verschiedene Arten von Hefen und Milchsäurebakterien. So sind etwa 1 bis 10 Millionen Hefezellen sowie 10 bis 100 Millionen Milchsäurebakterien pro Gramm enthalten. Im Teig produzieren sie aus den Inhaltsstoffen des Weizenmehls neben Kohlendioxid, Milch- und Essigsäure sowie Alkohol vor allem besonders viele Aromen und Aromavorstufen. Die Zusammensetzung und Menge der Mikroorganismen ergeben sich aus dem eingesetzten Weizenmehl sowie den Prozesszeiten, Teigausbeuten und Temperaturen.
Weizenmehle enthalten bereits bis zu 1.300 Hefezellen und 300 Milchsäurebakterien pro Gramm. Um aus Weizenmehl und Wasser einen stabilen Lievito Madre für die großtechnische Produktion von Panettone mit den gewünschten Eigenschaften heranzuführen, kann es bis zu mehrere Monate dauern. Eine gleichmäßige Stabilität wird im Prinzip nie erzielt, sondern muss durch tägliches Auffrischen an 365 Tagen pro Jahr erhalten werden. Die Profis überlassen hier nichts dem Zufall, sondern überwachen und steuern die Einhaltung von Rezepten, Temperaturen und Zeiten. Diese sogenannten „Lievitisti“ sind verantwortlich für die gleichmäßige Triebkraft und die weiteren qualitätsverbessernden Eigenschaften des Lievito Madre und somit auch für die Produktionsabläufe und Gebäckqualität.
Die italienischen Bäcker lassen bei der mehrstufigen Herstellung des Lievito Madre große Umsicht und Sorgfalt walten. Der Lievito Madre Prozess wird wie ein Betriebsgeheimnis gehütet. Das Weiterführen der Madre (Hefemutter) erfolgt beispielsweise mit Anstellgut, Wasser sowie Weizenmehl und einer Reifung bei 24 − 26 °C für mehrere Stunden. Vom reifen Lievito Madre wird ein Teil abgenommen und für folgende Weizensauerteigführungen bevorratet. Dazu wird der stabile Sauerteig eng in ein Leinentuch eingewickelt und fest verschnürt. Der Sauerteig soll nicht zu sehr mit Umgebungsluft beziehungsweise mit Sauerstoff in Berührung kommen und sich nicht im Volumen vergrößern. Aufbewahrt wird dieser Anstellgut-Sauerteig im Kühlschrank für bis zu 24 Stunden.
Die langen Gärzeiten von Teigen mit Lievito Madre führen zu einer guten Verquellung der Mehlbestandteile. Zudem gibt es Abbauprozesse durch die natürlicherweise enthaltenen mehleigenen Enzyme, bei denen die Stärke des Mehles zu verschiedenen Zuckerstoffen aufgespalten wird. Diese verbessern den Schmelz und die Saftigkeit der Gebäckkrume. Die abgebaute Stärke kristallisiert nicht zurück und das sogenannte Altbackenwerden ist vermindert. Die Milchsäurebakterien und Hefen verstoffwechseln einen Teil der Zuckerstoffe zu Genusssäuren und Alkohol, wodurch der Geruch und Geschmack verbessert werden. Diese positiven Eigenschaften nehmen die Konsumenten bewusst oder unbewusst wahr.
Getrocknete Lievito Madre
Durch viele Versuche hat man auch Verfahren entwickelt, Lievito Madre zu trocknen. Dazu wird der reife Lievito Madre mit speziellen Trocknungsanlagen bei möglichst niedrigen Temperaturen schonend getrocknet. Um die qualitätsfördernden Eigenschaften des Lievito Madre auch im getrockneten Produkt zu erhalten, ist eine sehr spezielle Weizenmehlqualität und eine perfekte Führung und Überwachung notwendig. Die getrockneten Lievito Madre zeichnen sich durch einen feinen, leicht säuerlichen und aromatischen Geruch aus. Sie werden in Vormischungen oder zur direkten Zugabe im Teig in Bäckereien, Konditoreien und Pizzerien angewendet. Getrocknete Lievito Madre verbessern die Teigeigenschaften und die Gebäckqualität. Die Anwender, denen häufig das gut ausgebildete Personal fehlt, können dann auf die empfindliche Heranführung von Lievito Madre verzichten.
Seit ein paar Jahren sind auch getrocknete Lievito Madre mit aktiven Milchsäurebakterien und Hefen verfügbar. Dies wurde möglich durch eine noch weiter optimierte Trocknung von reifem Lievito Madre und die Abfüllung in Spezialverpackungen, die das Produkt vor Licht, Luft und Sauerstoff schützen. Die milden Fermentationen nach dem „Lievito Madre Prinzip“ werden heute auch auf weitere Rohstoffe wie Dinkelmehl, Hartweizenmehl und verschiedene Vollkornmehle angewendet. Dabei wird auch dem Bio-Trend Rechnung getragen.
Zusammenfassung
Die weltberühmte italienische Küche und die italienische Lebensmittelproduktion genießen rund um den Globus ein sehr hohes Ansehen. Unsere Welt wäre ärmer ohne die hervorragenden Weine, Schinken und Salami, die vielen Käsesorten oder Gelato. Auch die italienische Bäckerei und Feinbäckerei hat sehr viel zu bieten. Mit dem Lievito Madre und den daraus hergestellten Kuchen, Broten und Pizzen bereichert uns der Lievito Madre Trend aus Italien um hochwertige und schmackhafte Produkte. Es ist schon erstaunlich, dass es relativ lange gedauert hat, bis man den Lievito Madre auch in Deutschland und Österreich entdeckt hat. Diese besonderen Sauerteige passen zu den jetzt bevorzugten, weniger sauren Brotsorten aus langen und milden Fermentationen. Dies erfordert jedoch große Sorgfalt bei der Herstellung von Broten und Feingebäcken. Für die kommenden Jahre sind hier noch weitere innovative Rezepte und Gebäcke zu erwarten.